Referenzieren – das moralische Hintertürchen
- Rojda Oernek
- 22. Okt. 2019
- 10 Min. Lesezeit
Eine kritische Betrachtung der Realitätsdarstellung in «Children of Men» (2006)
Einleitung – Ein Film, von Kritikern gefeiert
Globale Unfruchtbarkeit hat die Welt ins Chaos gestürzt. Grossbritannien ist im Jahr 2027 das einzige Land mit einem intakten Regierungssystem und bleibt von anarchischen Zuständen verschont. Die Grenzen sind zu, illegale Flüchtlinge werden brutal gejagt und deportiert.
Das ist die Ausgangslage von Alfonso Cuaróns dystopischem Thriller Children of Men (2006). Der mexikanische Regisseur, der auch das Drehbuch mitschrieb, lehnte sich in seinen Film nur vage an den Inhalt des 1992 erschienenen, gleichnamigen Roman von P.D. James. So sind im Buch zum Beispiel die Männer der Grund für die Unfruchtbarkeit, während im Film die Frauen der Ursprung des Fortpflanzungs-Dilemmas sind.
Produziert und vertrieben wurde der Film, dessen Drehort hauptsächlich England war, unter dem Mantel von Universal Pictures, einer der sechs grössten Produktionsfirmen in den USA (imdb.com, 2018). Weltweit hat der Film knapp 70 Millionen US-Dollar in die Kinokassen gespielt und deckte somit das Produktionsbudget von 76 Millionen nicht ab (boxofficemojo.com, 2018). Obschon kommerziell ein Flop, wurde und wird der Film von Kritikern gefeiert. Sinngemäss zusammengefasst, etwa so: Ein realistischer Sci-Fi-Thriller, der auch 12 Jahre nach seiner Premiere die Gegenwart referenziert, die Proliferation der Post-Moderne reflektiert, die politischen Entwicklungen der kapitalistischen Nationen kritisiert, dabei noch kulturelle und religiöse Symbolik in die Ästhetik des Filmes einwebt und so ein cineastisches Meisterwerk von zeitloser Bedeutung ist (Borcholte, A. (2006), Barber, N. (2016), Amago, S. (2010)). Vom BBC Kultur-Feuilleton (2016) wurde der Film, mit Bewertungen von weltweit 177 Kritikern, auf Platz 13 der 100 bedeutendsten Filme des 21. Jahrhunderts aufgenommen.
In einem Interview mit «The Nashville Scene» (2007) sagt Regisseur Cuarón zu seinem Film: «We’re not creating; we’re referencing here.». Doch Realität existiert immer aus einer Perspektive. Anhand Beschrieb und Analyse einer Szene versuche ich eine Interpretation, die der Frage nachgeht, was referenziert wird und was mögliche moralische und ethische Implikationen seiner Darstellung der Realität sind.
Kurzumriss der Handlung
Protagonist Theo Faron (Clive Owen), ehemaliger politischer Aktivist und aktuell lebensmüder Alkoholiker, wird von der Rebellengruppe «Fishes» angeheuert, die afrikanisch stämmige, illegale Immigrantin Kee (Clare-Hope Ashitey) über die Grenze zu schmuggeln. Kee ist wie durch ein Wunder schwanger und soll beim «Human Project», einer mysteriösen Organisation, welche die Ursachen der Unfruchtbarkeit erforscht, Unterschlupf finden.
In einer Unterkunft der «Fishes» belauscht Theo in der Nacht ein Gespräch zwischen dem An-führer Luke (Chiwetel Ejiofor) und seinen Handlangern. Diese möchten Theo umbringen und Kee sowie ihr ungeborenes Kind für ihre eigenen politischen Zwecke nutzen. Theo flieht mit Kee und der Hebamme Miriam, welche schon zuvor Kee’s Wegbegleiterin war. Sie lassen sich in ein Flüchtlingscamp deportieren und wollen Kee von dort aus dem Human Project übergeben. Miriam wird noch in der Ankunftshalle von einem bewaffneten Aufsichtsmann aus dem Bus gezerrt. Es ist nicht klar, was danach mit ihr passiert. Im Camp bringt Kee eine Tochter zur Welt. Am nächsten Tag stürmen die Rebellen das Lager. Die Schreie ihrer Tochter bringen die bewaffnete Auseinandersetzung gerade lange genug zum Stillstand, so dass Theo, Kee und ihr Säugling zu dritt in einem kleinen Ruderboot durch einen Kanal hinaus aufs Meer fliehen können. Im Boot stirbt Theo an der Schusswunde, die ihm Luke, der «Fishes»-Anführer, zuvor zugefügt hat. Kee treibt mit ihrer Tochter im Boot, als ein grosses Schiff mit der Aufschrift «Tomorrow» aus dem Nebel gleitet. So endet der Film.
Beschrieb und Analyse - Der Weg ins Bexhill Refugee Camp
Die folgenden Szenen enthalten innerhalb von dreieinhalb Minuten kondensiert alles, was «Children of Men» stilistisch und thematisch (USA-Kritik post 9/11, religiöse Referenzen, Willkür des Gewaltmonopols) ausmacht.
Ein Personenbus fährt in einer Totalen über eine geteerte Strasse. Die Kamera schwenkt mit. Abfallend zur Strasse ein grüner Hang, der in weiterer Ferne abflacht und vor einer, von einem Graben umgebenen, ummauerten Ansammlung von Gebäuden aufhört. Rauch steigt von der Siedlung auf, welche direkt an der Küste liegt. Die Sonne ist am Untergehen und schon fast hinter dem bewölkten Horizont verschwunden.

Wie der Zuschauer in der nächsten Einstellung erfährt, ist es das Flüchtlingscamp, in welches sich Theo, Kee und Miriam einschleusen lassen. Der Rauch scheint von Schornsteinen zu kommen, und hängt wie eine dunkle Wolke des Unheils über dem Lager. Diese Wolke könnte eine Anspielung zu den Verbrennungsanlagen der Konzentrationslager der Nazis aus dem zweiten Weltkrieg sein. Die landschaftliche Idylle, in welche das Camp eingebettet ist, ist ein starker Kontrast zu den harschen Lebensumständen, in welchen die Flüchtlinge dort leben. Orchestrale Musik und Vogelgezwitscher, welche die Einstellung untermalen, sind wie Häme im Angesicht des fernen Elends. Die schrecklichsten Dinge passieren an den schönsten Orten. Oft wissen wir darum – und tun doch nichts.

In der nächsten Einstellung ist es bereits dunkel. Der Bus fährt in einer Halbtotale durch ein offenes Eingangstor. Die Handkamera folgt dem Bus auf gleichem Abstand. Das Tor ist von einem Panzer, bewaffneten Sicherheitsleuten hinter Schiessständen, Flutlichtern und einem Wachturm flankiert. Zwei Flaggen, die britische und die der «Homeland Security», wehen am Fahnenmast vor dem Turm. Nach dem ersten Tor folgt ein fünf Meter breiter Zwischenbereich, bevor das nächste offene Tor folgt, durch das der Bus fährt. Auch in diesem stehen Generatoren mit Flutlichtern und bewaffnete Sicherheitskräfte. Auf einem Gerüst mit weiteren Scheinwerfern, welches das zweite Tor umspannt, stehen zwei untereinander befestigte Plaketten. Auf der oberen steht «Homeland Security». Auf der unteren «Bexhill Refugee Camp» und «Restricted Access», sowie das Logo der «Homeland Security» – eine Krone über einem Kreis, der den Umriss Grossbritanniens umrahmt.
Der Bus fährt weiter durch eine Einfahrt, welche fortführend vom ersten Tor her von Gitterstäben umzäunt ist. Auch hier Flutlichter und bewaffnete Sicherheitskräfte.
Die starken Sicherheitsvorkehrungen erwecken den Anschein, hinter den Mauern ein Gefängnis für Schwerkriminelle zu beherbergen, und nicht unbewaffnete Flüchtlinge ohne Hab und Gut. Auch hier wieder ein starker Kontrast zwischen dem äusseren Anschein und dem Inhalt. Solch ausgeklügelte Sicherheitsvorkehrungen können aber auch als Hommage an den Überlebenswillen der Menschen verstanden werden.
Ein weiterer Interessanter Punkt ist die «Homeland Security», welche im Film für die Sicherheit Britanniens zuständig ist. In Wirklichkeit ist «The Department of Homeland Security» das Heimatschutzministerium der USA, welches nach 9/11 vom damaligen US-Präsidenten Bush ins Leben gerufen und seine operativen Tätigkeiten 2003 aufnahm (History of the Nebraska Avenue Complex (NAC), 2015). Im Film lässt die «Imperial State Crown» im Logo, als Symbol der Monarchie, darauf schliessen, dass sich die «Homeland Security» selbst zum Souverän gekrönt hat. Britannien ist ein Polizeistaat geworden, das sieht der Zuschauer auch daran, dass die Flagge, ein Symbol nationaler Identität und des Patriotismus, direkt unter derjenigen Grossbritanniens weht.

Die nächste Einstellung schneidet in den dunklen Bus. Getrennt durch einen Gang sitzen Theo (rechts in Fahrtrichtung) und Miriam und Kee (links) parallel zueinander im hinteren Teil des Buses. Weitere Flüchtlinge sind auf den Sitzen verteilt. Zuhinterst hustet ein dunkelhäutiger Mann. Die Fenster sind vergittert. Sie fahren in eine Art Ankunftshalle ein. Die Handkamera fährt auf die Protagonisten zu. Kee’s Fruchtwasser ist geplatzt. Die Kamera schwenkt aus dem Fenster. Draussen werden Flüchtlinge misshandelt und erniedrigt, stehen in Käfigen, liegen tot aufgereiht am Boden oder werden in Reih und Glied bewacht. Der Bus hält, Scheinwerfer gehen an, ein Sicherheitsbeamter mit einem Schäferhund betritt das Fahrzeug. Er zerrt einen Passagier, der Italienisch spricht («sono cattolico, non c’entro niente»), aus dem Sitz und übergibt ihn hinten stehenden Beamten. Kee schreit vor Schmerzen. Als der Beamte wütend verlangt zu wissen, was mit ihr los sei und Kee keine Antwort gibt, steht Miriam auf und betet mit ausgebreiteten Armen gen Himmel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Sicherheitsbeamte schlägt ihr ins Gesicht. Sie steht mit blutender Nase wieder auf und betet weiter. Daraufhin wird auch sie aus dem Bus gezerrt. Als der Beamte sich Kee schnappen will, sagt Theo: «Kacka, Pippi, Gestank». «Riech doch selbst daran. Ihr verdammten Leute widert mich an» erwidert der Beamte und verlässt den Bus. Theo setzt sich zu Kee rüber. Als sie aus dem Fenster blicken, sehen sie gerade noch, wie Miriam ein schwarzer Stoff-Sack über den Kopf gestülpt wird, bevor der Bus weiterfährt. Orchestrale Musik mit Opern-Stimme, sowie «Arbeit macht frei» von den Libertines.

Die Kamera, welche dem Protagonisten Theo nur von der Seite weicht, um das Augenmerk auf den Hintergrund zu lenken (Puschak, E. 2015), geht auch in diesem Fall mit den Flüchtlingen nicht anders um. Abgesehen von den Protagonisten sind kaum merkbare, identifizierbare Individuen vorhanden. Sie sind eine Masse von gepeinigten, gefolterten Menschen. Sie haben Sorgen, bangen um ihre Zukunft und ihr Leben – aber sie sind anonym – sie können wieder vergessen werden. Die Zustände der horrenden Verfolgung und Deportation sind so normal, dass es zum Hintergrundrauschen gehört. Die Szenen enthalten jedoch einen direkten Link zum «Abu Ghraib Folterskandal», der 2004 die USA erschütterte. Damals wurden Fotos veröffentlicht, auf denen US-Soldaten mit gefolterten Häftlingen posieren (Leung, R. 2004). Eines der bekanntesten Bilder ist dasjenige eines Häftlings, der mit einem spitzen schwarzen Stoffsack über dem Kopf, ei-nem schwarzen Gewand und Strom-Kabeln an ausgestreckten Händen auf einer Kartonkiste steht (The Secrets of Abu Ghraib, 2009). Cuarón referenziert dieses Bild direkt, indem ein Flüchtling in gleicher Pose in einem Käfig steht und von Stromschlägen erschüttert wird.


In einer Totalen läuft eine ungeordnete Schlange von Menschen durchs Bild. Sie befinden sich in einer halboffenen, grossen Halle.
Im Hintergrund, von Decken-Flutlichtern beleuchtet, die Busse mit den Neuankömmlingen. Theo und Kee steigen aus und laufen auf die Menschenschlange zu. Vor den Fahrzeugen in der linken Bildhälfte ein Käfig mit bellenden Hunden. Davor abermals eine britische und darunter eine «Homeland Security»-Flagge. Die Handkamera läuft mit der Masse mit und geht gleichzeitig näher ran, so dass sie in dem Moment, in dem die Protagonisten sich in der Schlange eingliedern, bei ihnen ankommt und dann wieder Theo folgt. Im Hintergrund ist ein Haufen mit Koffern und Habseligkeiten der Flüchtlinge zu sehen.
Theo wird von einem Beamten angehalten und muss sich seiner Uhr entledigen. Kee wird währenddessen weiter nach vorne gedrückt und ruft angsterfüllt nach Theo. Sobald Theo seine Uhr abgegeben hat, eilt er auf eine Art Metall-Gitter-Labyrinth zu, durch welches die Leute geschleust werden. Über dessen Eingang steht «Homeland Security».

Eine Durchsage mit einer weiblichen Stimme ertönt: «Britain supports you and provides you shelter. Do not support terrorists.» Im Labyrinth kann Theo einen kurzen Blick auf Kee erhaschen. Am Ende des Labyrinths geht er durch eine Drehtüre mit Gitterstäben und betritt das Flüchtlingscamp. Die Kamera folgt ihm.
Gleich am Eingang zu seiner Rechten stehen Menschen mit Bildern von Vermissten. Der Platz ist voll mit Menschen, welche durcheinanderreden. Neonröhren, welche in der Luft an Seilen befestigt sind, spenden Licht. Kaum einen Schritt weiter wird er von einem Mann angesprochen, der keine Beine mehr hat und auf einem Gestell auf dem Rücken eines anderen getragen wird. Er sagt: «Very, very welcome to paradise». Theo lässt ihn zurück und sucht weiter nach Kee. Ein Mann versucht Kee anzuquatschen. Theo stösst ihn beiseite. Kee fährt ihn wütend an, wo er gewesen sei? Kaum ist der eine Mann weg, kommt der nächste, er geht auf Krücken und bietet Essen und Unterkunft an. Auch ihn stösst Theo beiseite. Mit Kee im Arm sucht er nach dem Treffpunkt mit ihrer Kontaktperson im Camp.
Die Kamera schweift von ihm ab auf eine Soldatenstatue, welche im Ausfallschritt mit einem Bajonett in die Luft zielt. Sie ist mit roter Farbe übergossen. Die Kamera schweift runter auf den Sockel, wo Vermissten-Anzeigen kleben. Die Kamera schwenkt rechts um den Sockel herum, an dessen Fuss rauchend Marichka, ihre Kontaktperson, sitzt.

Auch in dieser Szene sind die Flüchtlinge anonym. Der Zuschauer ist auf Theo und Kee fixiert. Die Menschenschlange, der Berg der Habseligkeiten und die Uhr, welche Theo abgeben muss, referenzieren auch hier die Deportation der Juden im zweiten Weltkrieg.
Der Beginn des Camps gleicht einem wirren Marktplatz mit Essenständen. Trotz der Ausweglosigkeit der Situation versuchen die Menschen, ihr Leben lebenswert zu machen. Die Statue des Soldaten gleicht denjenigen, welche in Britannien aus dem zweiten und ersten Weltkrieg zu finden sind. Der Soldat kämpfte damals gegen Hitler und den Rassismus. Die rote Farbe, womöglich eine Referenz zu der Rumänin Marichka, welche mit ihrer ebenfalls roten Jacke aus den dumpfen Farben der Umgebung heraussticht. Vielleicht ist sie die Soldatin, welche selbstlos für Gerechtigkeit kämpfen wird. Die rote Farbe könnte aber auch eine Referenz für den Kommunismus sein und somit das Gegenstück zum konsumorientierten Kapitalismus, welcher auch in Britannien 2027 vorherrscht. Vielleicht ein Symbol der möglichen links-politischen Orientierung des Regisseurs.
Interpretation – Vereint im Feindbild
Ein Mexikaner macht einen USA-kritischen Film für 76 Millionen Dollar, und eines «der» Filmstudios Hollywoods produziert ihn. Eine aussergewöhnliche Kombination, unter Anbetracht der immigrationspolitischen Spannungen zwischen den beiden Nationen. Der Regisseur hat es geschafft seine linke politische Ideologie in «Children of Men» zu verewigen und das Ganze als Sci-Fi-Action-Film an die breite Masse zu verkaufen.
Indem Cuarón mit der «Homeland Security» eine derart bekannte Institution in seinen Film eingliedert und sie als Übeltäter der unmenschlichen Behandlung der Flüchtlinge einsetzt, schafft er einen direkten Bezug zum gleichnamigen amerikanischen Ministerium. In seiner Darstellung des Logos und der Flagge zeigt er seine Besorgnis über den möglichen Machtmissbrauch eines Sicherheitsorgans, welches eigene politische Ziele verfolgt.
In einem Interview mit «The Nashville Scene» (2007) erwähnt er, dass sich die USA immer mehr von ihrer eigenen Definition abwenden. Anstatt das Land der Möglichkeiten zu sein, ist es das Land des Fanatismus (Zealot) geworden. Der Begriff Demokratie gehe einher mit abgeriegelten Gemeinschaften.
Dass die ausführenden Produzenten nicht nur die Verwendung der «Homeland»-Referenz, sondern auch eine Verbildlichung der Abu- Ghuraib-Folter unterstützt haben, könnte daran liegen, dass der Skandal auch in den USA von den Medien aufgearbeitet wurde. So sind die Szenen als eine Art «Wir stehen dazu» zu verstehen. Dass die Soldaten überhaupt zu so Gräueltaten fähig waren, benennt Diane Marie Amann (2005) als eine bewusste Selbsternennung zur Exekutive. Ausgelöst werde dies durch die Annahme, weil Krieg herrsche, könne Macht prärogativ eingesetzt werden.
Während die Publikation der Bilder die Persönlichkeitsrechte der Gefangenen verletzt, schafft Cuarón durch das Einbetten der Geschehnisse der realen Welt in eine fiktive Parallelwelt, eine Realität wiederzugeben, die viel allgemeingültiger ist und somit von Verletzungen der Individuen absieht – ohne die Brutalität der Situation runterzuspielen.
Der Film funktioniert als rasanter Actionfilm, sowie auch als Bindeglied zwischen unserer erlebten Realität und der künstlerischen Darstellung eines realen Unrechts. Samuel Amago greift in «Ethics, Aesthetics, and the Future in Alfonso Cuarón’s “Children of Men»» (2010) einen sehr interessanten Punkt auf: Wir definieren uns durch unsere Gegenstücke. Ein Sieg in sich kann wertlos sein, wenn man den bedeutungsgebenden Kontrahenten verliert. Im Film, in einer Welt, wo alles zusammengebrochen ist, definiert sich ein funktionierendes Britannien durch das Ausschaffen von «gefährlichen» Flüchtlingen. Dies wiederum ist vielleicht die Tragik unseres gesellschaftlichen Daseins. Denn was verbindet mehr als ein gemeinsamer Feind?
Um die Fragestellung nochmals aufzugreifen: Cuarón fährt seine Verantwortung als Filmemacher doppelspurig aus, indem er als Unterhalter agiert, aber auch seine Weltsicht einbringt und somit seine eigene Realität referenziert. Mit welcher sich, je nach politischer Orientierung, gewisse Menschen werden identifizieren können und andere wiederum nicht.
Die moralischen und ethischen Implikationen davon lassen sich ebenso offen auslegen. Der Film wurde für ein bestimmtes Publikum produziert. Anhand der Wahl von Britannien als funktionierende Nation und dem ethnischen Aussehen der Flüchtlinge behaupte ich, dass es für ein westliches gemacht wurde. Damit der Film seine Wirkung entfalten kann, muss sich der Zuschauer mit dem Protagonisten identifizieren können und nicht mit der gejagten Masse. Darum rücken identifizierbare Gesichter auch nur in den Vordergrund, wenn die Kamera auf den Hintergrund abschweift. Als Kritik könnte ich dagegenhalten, dass Cuarón uns mit altbekannten Bildern und Stereotypen von Flüchtlingen füttert, ohne die Einzigartigkeit des Plots auszukosten und ohne unsere Wahrnehmung herauszufordern. Wie hätte der Film gewirkt, wenn Kee eine braunhaarige, blauäugige Schweizerin gewesen wäre? Und wie hätte er gewirkt, wenn die Flüchtlinge nur aus den «angrenzenden» Ländern Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland und Norwegen gekommen wären?
Das Referenzieren, die klare Ansage, wo seine politischen Loyalitäten liegen und die klare Darstellung von Gut und Böse sind Alfonso Cuaróns moralisches Hintertürchen. Er kann es nicht allen recht machen, aber er ist immerhin transparent. Und das lege ich ihm, wenn es um eine 76-Millionen-Dollar-Produktion geht, als Stärke aus.
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